Leseprobe |
Jene Bühne gibt es nicht mehr, jene Mauer steht nicht mehr,
die hundertjährige aus Kalk und Stein,
weder den Souffleurkasten, noch auch die Souffleuse.
Nur ferne noch Erinnerungen,
denen eine kleine Scherbe
haushoch überlegen ist,
denn aus noch so süßen Träumen
holt uns die kleinste Wirklichkeitsberührung
augenblicklich rück.
Angelina aber
hat unser Dorf verlassen,
weil ein junger Mann, der das Theater liebte
und berühmt
für Heldenrollen war,
sich mitten auf der Bühne, blind vor Liebe,
den Dolch ins Herz stieß
und sterbend der Souffleuse in die Augen sah.
Die Souffleuse aber
(Wir wollen ihren Namen nicht zu häufig nennen,
damit wir ihn hier nicht zerfetzen,
und außerdem, weil er schon bald
mit Bitternis genannt sein wird),
sie, die das Drama nicht so sehr empfand,
weil doch die Sache mit dem Dolch
in ihrem Textbuch stand,
wenn auch von Blut dort keine Rede war,
sie zog es vor, noch abzuwarten,
weil sie fühlte, dass die Pause
die Mienen rings im Saal erhellte
wie ein Flammenschein.
Doch schleppte sich der Mime, eh der Vorhang fiel,
zum Kasten der Soffleuse,
bot sich dar,
und damit er nun ihr schönes Angesicht
nicht allzu sehr von Leid zerrissen sah,
flehte er sie kläglich an:
Sprich mir vor, Angelina!
Doch weil
die alte Nonchalance
das mondende Gesicht der Frau beschien,
wollte auch er nun nichts mehr anderes sehn,
er schloss die Augen
und war wirklich tot.
So ging uns die Souffleuse ab,
die jahrelang mit Nonchalance
den Stürmen auf der Bühne zusah,
und wenn die Welt dort unterging,
so hätte sie nur höflich nachgefragt,
was los sei.
…
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Presse |
»Stilistisch charakterisiert diese Lyrik eine raffiniert kalkulierte Redundanz und ein daraus resultierendes rhapsodisches Element, aber auch eine leise Melancholie über allzu rasch vergangenes Leben, in dem auch Lebensgier und Erotik eine Rolle spielen. Die Fülle der Themen und die Ambivalenz der Stimmungen machen diese Gedichte zu einem kleinen Welttheater, in dem der Blick immer wieder auf Allgemeinmenschliches fällt. Ein bemerkenswerter Band, dem man schon aufgrund seiner kongenialen Nachdichtung breite Beachtung wünscht.«
Manfred Bosch ekz Bibliotheksservice
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