2025-12 Rezensionen

Im Raum zwischen den Stimmen: Die Lyrik Yıldız Çakars
Hesen Ildiz auf Zäsur. Poesiekritik

Es kommt nicht oft vor, dass ein Gedichtband zugleich ästhetisch zwingend und kulturpolitisch unverzichtbar wirkt. Dunkles Siegel, der erste vollständig ins Deutsche nachgedichtete Gedichtband der kurdischen Lyrikerin Yıldız Çakar (1978 geboren in Diyarbakır), gehört zu diesen seltenen Fällen. Der Band öffnet einen poetischen Raum, in dem Körper, Erinnerung und Sprache so eng miteinander verschränkt sind, dass sich individuelle Erfahrung in kollektive Geschichte verwandelt.

Dunkles Siegel ist ein Gedichtband, der keine schnellen Urteile zulässt. Seine Stärke liegt nicht in großen Gesten, sondern in der konsequenten Bildarbeit, die archaische Motive und moderne Exilerfahrung ineinander schiebt: Erde, Milch, Wind und Grabstein stehen neben Straßen, Winternächten und verschobenen Koordinaten; die Bilder wandern zwischen Kurdistan und Deutschland, ohne ihre Herkunft zu glätten. In dieser klar geführten, körpernahen Sprache zeigt der Band, wie Poesie in Zeiten politischer Gewalt zu einer Form des Überlebens werden kann – nicht als Symbol, sondern als Praxis. Die Gedichte bewahren nicht nur Erinnerung; sie schaffen sie.

In einer literarischen Öffentlichkeit, in der kurdische Dichtung bislang kaum präsent ist, markiert Dunkles Siegel einen wichtigen Einschnitt. Der Band macht eine Lyrik sichtbar und hörbar, der das Exil nicht äußerlich beigegeben, sondern tief eingeschrieben ist – in Bildern, Rhythmen und Wahrnehmungsweisen. Damit öffnet er einen Raum, in dem kurdische Erfahrung nicht erklärt oder vermittelt werden muss, sondern sich poetisch selbst artikuliert. Dunkles Siegel ist somit nicht nur ein singuläres Buch, sondern ein Anfang: ein Band, der auf weitere Übersetzungen, Nachdichtungen und Stimmen hoffen lässt. Ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern weitergehört werden sollte.

Mickey Mouse als Verheißung und Ausweg
Jan Kuhlbrodt im Signaturen-Magazin

Während meiner Kindheit in der DDR und somit in der östlichen Hemisphäre war der Name und die Figur Mickey Mouse doppelt besetzt. Von oben und von unten sozusagen. Einerseits kursierten Kaugummibilder und Comichefte, die irgendwie und auf halsbrecherische Weise den Eisernen Vorhang überwunden hatten, und andererseits galt der Name in den Augen der Wandlitzgemeinde gewissermaßen als Pseudonym für die verkommene Rückständigkeit westlicher, mithin kapitalistischer Kultur. Was natürlich aus heutiger Sicht einigermaßen witzig klingt, führt man sich Ulbricht, Honecker und Konsorten jenseits ihrer politischen Macht vor Augen. Panzerknacker. Und letztlich wie das permanent scheiternde Disney-Verbrecherkollektiv ebenso gescheitert. Aber gründlicher.
Bela Chekurishvili hat ein Buch über die Aufnahme und den Niederschlag der Popkultur in der georgischen Dichtung herausgegeben. Gastspiel für Mickey Mouse. Pop und Poesie in Georgien. Es zeigt die Vielfalt der Reaktionen auf den Pop von Bewunderung, Verklärung, aber auch Abwehr. Denn in der amerikanischen Popkultur schwebte und schwebt auch immer ein invasives Element mit.

Was mich sehr an die DDR erinnert, aber vielleicht war es ja überall so, ist die Verklärung früh verstorbener Schauspiel- und Musikgrößen wie Marilyn Monroe und John Lennon. Die fast religiöse Ansprache:

        John, antworte mir!
        John, hör zu,
        John, du hast recht,
        unser Leben ist, was passiert,
        wenn wir die Zukunft planen
        und keine Zeit zu leben haben.

Das ist der Anfang des Gedichtes John! von Nino Darbaiseli Straughn. Diese Autorin wurde 1961 in Tbilisi geboren und bringt in diesem Gedicht die Situation ihrer (mithin meiner) Generation auf den Punkt. Uns umgab ein Zuviel an behaupteter Zukunft, die sich letztlich als Luftnummer erwies, uns die Luft aber auch abschnürte.

Ein spannendes Buch!

2024-10 Rezensionen

29. Dezember 2025