Für »neues deutschland« führte Ewgeniy Kasakow am 16.12.2023 ein Interview mit Yermen Anti, dass (leider um die Hälfte gekürzt) am 31.1.2024 erschien. Weil dabei natürlich auch die Hälfte der Informationen auf der Strecke blieben, gibt es hier die vollständige Fassung zu lesen.
Sie wurden 1974 in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren, was sind Ihre Erinnerungen an die Sowjetzeit?
Ich ging von 1981 bis 1990 in Aktjubinsk zur Schule, das heute Aqtöbe heißt und damals eine Industriestadt war. Die Perestroika kam bei uns mit einiger Verspätung an, erst etwa 1990. Wir durchlebten alles, was auch der Rest der Sowjetunion durchlebte: den Zerfall der Produktionsbetriebe, den Mangel an einfachsten Waren, Lebensmittelkarten, lange Schlangen, in denen Menschen für Wodka anstanden.
Wurde in Ihrer Familie Kasachisch oder Russisch gesprochen?
Beides. Zur Sowjetzeit waren etwa 65 % der Bewohner von Aktjubinsk primär russisch- und 35 % kasachischsprachig, aber es gab nur eine einzige kasachischsprachige Schule. Heute ist es umgekehrt, die Kasachischsprecher stellen die Mehrheit, dafür gibt es viele russischsprachige Schulen. Ich ging auf eine russische Schule, die kasachischsprachige war zu weit entfernt.
Sprach man bei Ihnen zu Hause viel über die Politik zu Sowjetzeiten?
Mein Vater war Mitglied der KPdSU, er trat allerdings bereits 1982 aus der Partei aus, lange vor Beginn der Perestroika. Er bewertete die damalige Politik [.] als Abweichung von den sogenannten „leninschen Normen“. Obwohl er Ingenieur war, wechselte er in die Produktion und arbeitete als Metallgießer. In der Sowjetunion hatte man nach zehn Jahren Arbeit in einer „heißen Zeche“ Anspruch auf frühere Verrentung. In meiner Familie wurde offen über die Repressionen der Stalinzeit gesprochen. Mein Großvater war Vorsitzender des Rayons [Bezirk] und wurde kurz vor dem Krieg 1941 denunziert, ein Freund im Apparat konnte ihn rechtzeitig warnen. Er hat ihm das Schreiben gezeigt Etwas später bekam er einen Orden verliehen, weil er bei einem Brand Geld aus einer Kasse rettete, aber er wusste natürlich, dass ihm weitere Denunziationen drohen würde, wenn das Geld verbrannt wäre, dann hätte man ihn der Veruntreuung beschuldigt. Schließlich erhielt er für seine Verdienste den Status „Pensionär von Bedeutung für die Republik“, das verschaffte ihm einige Privilegien. Doch an die damaligen Ängste hat er sich lebhaft erinnert.
Wie fanden Sie zur Rockmusik?
Als ich in die achte Klasse ging, sah ich in einem Kiosk das Cover des Albums „Radio Africa“ von Boris Grebenschtschikows Band „Aquarium“. Ich habe es gekauft, und es zog mich sofort in seinen Bann. Ich begann mich für die westliche Musik zu interessieren, die den russischen Rock beeinflusste. Schon bald spielte ich Bass in unserer Schule im Musikensemble, wie das damals hieß. 1991 war mir die Musik von The Clash, The Exploited, Sex Pistols schon vertraut, Punk hatte einen großen Einfluss auf mich.
Gab es damals in Aktjubinsk eine Rockszene?
Es gab Musiker, die spielten, um Geld zu verdienen, in Restaurants, auf Hochzeiten oder Komsomolveranstaltungen. Mit denen wollten ich und meine Mitstreiter nichts zu tun haben. Über Rock erfuhr man das meiste aus den Jugendsendungen des sowjetischen und später russischen Fernsehens.
Ihre Band „Adaptatsiya“ entstand, nur wenige Wochen nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion, im bereits unabhängigen Kasachstan. Wie war die Lage damals?
Alles zerfiel innerhalb der letzten zwei Jahre der Sowjetunion. Nur ein einziger Industriebetrieb arbeitete weiter, und Jobs dort haben meine Familie gerettet. Ich selbst studierte dann Russische Philologie auf Lehramt, hauptsächlich, um nicht den Wehrdienst leisten zu müssen.
Neben „Adaptatsiya“ hatten Sie ein Jahr später das erste kasachischsprachige Punkprojekt gegründet?
Ja, ich nannte es „Bishara Baldar“, was sich in etwa mit „Streunende Kinder“ übersetzen lässt. Das Album hieß „Made in France“. Wir gründeten den „Westkasachischen Punk-Klub“, der aus fünf Leuten bestand, die in drei verschiedenen Bands spielten.
Die ersten Auftritte in Russland verdankt „Adaptatsiya“ dem Kontakt zum sogenannten „Konkowo-Kreis“, der Szene um Boris Usov und seine Band „Solomennyye Enoty“ (Waschbären aus Stroh). Usow versammelte damals in seiner Wohnung in der Moskauer Stadtteil Konkowo verschiedene Bands und Künstler um sich. Wie kam der Kontakt zustande?
Unser damaliger Bassist ging zum Studieren nach Russland, nach Kasan, und brachte von dort Aufnahmen von „Wachbären aus Stroh“ mit. Über einen Musikladen in Moskau besorgten wir uns die Telefonnummer von Arina Stroganowa, Sängerin und Bassistin der „Waschbären“. In März 1996 spielten die Bands der Moskauer Konkowo-Kreises bei uns in Aqtöbe und ein halbes Jahr später wir bei ihnen in Moskau. Unser Konzert fand in geschichtsträchtigen Räumlichkeiten des Moskauer Kunsttheaters (MChAT) in der Kammergerski-Gasse. Im Herzen von Moskau! Es waren die 1990er, und auch die Elitetheater mussten Geld durch die Vermietung von Räumen verdienen.
Dem 2019 verstorbenen Usow eilte der Ruf voraus, ein im Umgang sehr schwieriger, soziophober und schwer alkoholabhängiger Mensch zu sein.
Zur damaligen Zeit erlebte ich ihn noch anders, als den äußerst energiegeladenen, tatenfreudigen Kopf der Szene. Ich spielte zeitweilig in seiner Band auch Schlagzeug, so bei der Aufnahme des Albums „Ostrow-Krepost“ („Inselfestung“, 1997). Aber nach fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit verschlechterten sich zwischen uns die Beziehungen. Ständig gab er Anweisungen, was unsere Band zu tun und zu lassen habe. 2000 endete unsere Zusammenarbeit.
Die „Konkowo-Formation“ stand in der Tradition der Sibirischen Punkschule um Jegor Letow und seine Band „Grazhdanskaya Oborona“. In den 1990ern wurden die Kontakte der Sibirier zu Eduard Limonows Nationalbolschewistischer Partei [NBP – der aus dem US-Exil zurückgekehrte Schriftsteller versuchte sich an einer Synthese sowjetischer und nazistischer Symbolik, nach seiner Verhaftung erklärte er die Partei zu einem Kunstprojekt] immer enger. Sie lebten damals als kasachischer Migrant in Russland, als Limonow 2001 verhaftet wurde, als er angeblich versuchte, einen Aufstand russischer Separatisten im Nordkasachstan anzuzetteln. Hat der russische Underground Putins heutige Ideologie vorweggenommen?
Damals ging das alles auf einer Ebene von kleinen Zirkeln vonstatten. Niemand dachte jemals, dass diese Ideen in die Hände und Köpfe von Menschen geraten würden, die Zugriff auf die Atomwaffen haben. Alexander Dugin [Neurechter Theoretiker, Mitbegründer der NBP und des sogenannten Neueurasismus– A.d.R.] hielt damals Vorträge vor vielleicht dreißig Leuten, von denen die eine Hälfte Fans von Letows Punkmusik waren und die andere sich für diese Philosophie interessierte.
Kannten Sie Jegor Letow persönlich?
Wir spielten zweimal als Vorband von „Grazhdanskaya Oborona“, aber eine persönliche Bekanntschaft kam nicht zustande.
Haben Sie Limonow mal persönlich kennengelernt?
Nein. Zuweilen wurden unsere Konzerte von Mitgliedern der NBP organisiert. Einmal waren wir nach Smolensk eingeladen worden und stellten dann fest, dass die Veranstaltung unter dem Slogan „Tag der russischen Nation“ lief und das Publikum aus den örtlichen radikalen Nationalisten bestand. Es hat uns zwar empört, dass man uns das nicht im Vorfeld gesagt hat, aber wir wollten vor diesem recht unfreundlich gestimmten Publikum nicht kneifen und den Organisatoren zeigen, dass wir – eine kasachische Band – besser spielen können, als ihre dortigen Provinzskins. Die Geschichte hatte allerdings ein Nachspiel. Bei unserem ersten Auftritt in Berlin im »Cafe Burger« wurden wir von den Antifas, die Unterstützung für russische Antifaschisten organisierten, intensiv darüber befragt. Im Ergebnis flogen wir dann von der Titelliste der Soli-CD »Schlag ein auf die Feinde der Kulturrevolution«, die bei dem Bremer Musiklabel »Jump Up« 2001 erschien.
Sie lebten lange Zeit in Sankt-Petersburg, haben Sie in Russland häufig Rassismus erlebt?
Nicht in der Musikszene. Auf der Straße wurde man aufgrund des Aussehens schon häufiger von der Polizei angehalten. Gegen Ende der Amtszeit von US-Präsidenten Obama allerdings brach in den russischen Medien das Tabu, sich rassistisch zu äußern. Man las und hörte immer mehr entsprechende Kommentare.
Wie war es für Sie, als bei »Adaptatsiya«, ursprünglich einer Punkband aus der Nische, plötzlich Musiker mitspielten, die zuvor zu den bekanntesten Bands des »Russkiy Rock« gehörten: Pavel Borisow und Vadim Kurylew von »DDT«, Michail Nefedow von »Alisa« sowie Sergej Letow, der ältere Bruder von Jegor?
Als diese Musiker bei uns einstiegen, waren wir längt keine namenlose Band von der Peripherie mehr. Von 2002 bis 2008 waren wir wahrscheinlich die Underground-Band in Russland mit der höchsten Tourdichte.
Und wie waren Ihre ersten Auftritte in Deutschland, abgesehen von der Geschichte um den Auftritt vor Nationalisten? Kamen zu den Konzerten vor allem Menschen aus der postsowjetischen Diaspora oder auch deutschsprachige Besucher?
Alexej Blinow von »DK Berlin« [Dom Kultury Berlin – Plattenladen und Konzertagentur für die russischsprachige Alternativkultur] hatte 2002 drei Konzerte in Berlin organisiert. Ursprünglich sollten „Adaptatsiya“, [der Neofolk-Liedermacher] Denis Tretjakow und seine Band „Tserkov Detstwa“ und Nowosibirsker [Folk]-Band „Rada i Ternownik“ zusammen auftreten, doch letztere kam dann doch nicht nach Berlin. Der jüngst verstorbene anarchistische Dichter Bert Papenfuß hatte den Auftritt im »Café Burger« vorbereitet. Es wurde rappelvoll. Da kamen sogar Schüler der 10./11. Klasse, die noch nicht volljährig waren und ihre Eltern anrufen mussten, um länger bleiben zu können. Als wir in den Westen kamen, war das Interesse an Rock aus dem Osten, das während der Perestroika entstanden war, bereits wieder abgeklungen. Dennoch mussten wir immer wieder Fragen über unsere Länder beantworten. Wir waren weiterhin exotisch.
Sie sagen, russische und kasachische Politik habe Sie lange nicht wirklich interessiert.
Ja, für mich war klar, dass der primäre Antrieb dort die Korruption ist. Ich interessierte mich mehr für die internationale globalisierungskritische Bewegung.
Seit den Protesten im Januar 2022 erhöhte sich die Aufmerksamkeit für Kasachstan. Der neue Präsident Qasym-Zhomart Toqayev versprach eine Reihe von Reformen.
Der erste Präsident Kasachstans, Nursultan Nazarbayev war in einem Sumpf von Korruption versunken. Toqayev wird als eine Alternative wahrgenommen, der das Land von Nazarbayevs Erbe befreit. Der neuen Verfassung nach ist die Amtszeit des Präsidenten auf sieben Jahre begrenzt.
Die Proteste im Januar 2022 schlugen in Gewalt um, schließlich rief Toqayev die »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« [OVKS – russlandgeführtes Militärbündnis einiger ehemaliger Sowjetrepubliken] zu Hilfe.
Interessanterweise rief Toqayev nicht Putin um Hilfe, den Vorsitz der OVKS hatte gerade Armenien, als wandte er sich an den dessen Regierungschef Nikol Paschinjan. Die OVKS-Truppen waren vermutlich vor allem deshalb wichtig, weil, nachdem sie eingetroffen waren, die bis dahin abwartenden Einheiten der kasachischen Armee sich auf die Seite Toqayevs stellten. Die Protestierenden wandten sich vor allem gegen Nazarbayev, der als »Elbasy« – »Vater der Nation« weiterhin erhebliche Macht ausübte [u.a. als Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates auf Lebenszeit – A.d.R.]. Dem hielten sie entgegen: »Wir haben einen gewählten Präsidenten, wir brauchen keinen Vater der Nation.«
Nazarbayev ließ 2011 auf streikende Arbeiter scharf schießen, soweit ging bislang keine Regierung im postsowjetischen Raum.
Ja, wobei ich im Unterschied zu vielen Linken denke, dass bei den Ereignissen in Schangaösen im Dezember 2011 die streikenden Arbeiter benutzt wurden. Junge Männer in Arbeitskleidung, die aber nicht aus Schangaösen stammten, griffen die Polizei mit Eisenstangen an, worauf die Situation eskalierte. Viele bringen das mit den Machenschaften von Aslan Musin, dem damaligen Chef der Präsidialverwaltung im Zusammenhang.
Warum entschlossen Sie sich 2019, »Adaptatsiya« aufzulösen?
Wir hatten das Gefühl, wir haben alles getan, was wir konnten. Und wir würden unser letztes Album »Orwell« [das in den Top Ten der russischen Indie-Charts stand] nicht übertreffen. Dann kam die Pandemie, ich arbeitete an Solo-Projekten. Meinen ersten Auftritt nach der Auflösung von „Adaptatsiya“ hatte ich 2020 in Helsinki auf dem Polit-Festival »Väterchen Frost gegen Putin« [organisiert von russischen Anarchokommunisten, die wegen der Repression nach Finnland ausweichen mussten].
2016 hat »Adaptatsiya« im Donbass gespielt, was manche Ihnen und Ihren Bandkollegen bis heute vorwerfen.
Wir waren vor dem Kriegsbeginn 2014 oft in der Ukraine und ich kannte Donezk gut. Wir wollten uns selber ein Bild von der Lage machen. Als Bedingung für unseren Auftritt forderten wir, dass keine Flaggen der Kriegsparteien im Saal gezeigt würden, und das wurde auch eingehalten. Wir spielten im Februar 2016, Den Beschuss im großen Stil gab es zu der Zeit nicht, aber punktuell schlugen Geschosse ein. Es waren sichtlich weniger Menschen in der Stadt, der Bezirk Oktyabrskiy war quasi entvölkert, geblieben waren nur die alten Menschen. Die Staatsmacht hatte sich für zwei, drei Monate unsichtbar gemacht, die Banden hatten die Herrschaft übernommen. Die Anhänger des »Neurussland«-Projektes sprachen ganz offen über die Unterstützung durch Russland. Zwei Jahre später fanden wir unsere Namen in der »Mirotvorets« [Friedensstifter]-Onlinedatenbank wieder, der vermeintliche Feinde der Ukraine aufgelistet werden.
Hat der Krieg für dich viel verändert?
Für mich ist es so, dass, wenn sich heute ein Mensch offen gegen den Krieg ausspricht, dann ist das schon eine politische Position. Dann haben wir einen Berührungspunkt.
Der Musiker und Dichter Yermen Anti gehört zu den populärsten Vertretern der russischsprachigen alternativen Musikszene, der auch regelmäßig in Europa gastiert. Neben den Platten seiner Band »Adaptatsiya« veröffentlichte er mehrere Solo-Alben, Gedichtbände und eine Autobiografie; dazu arbeitet er an Theaterprojekten. 2022 erschien die deutsche Übersetzung »Wiederkunft der Wunderkinder« (Dağyeli Verlag), 2023 eine tschechische Übersetzung »Schönheit brutalen Alltags«. Das Berliner Label »Nomad Punk Records« veröffentlichte 2023 das Album »Für Vaterlandsverrat«, für 2024 sind die Alben »Gruz-200« und »Schwarzer Karneval« angekündigt.